Schamanen | Geschichten

Tatjana Kuschtewskaja | Sonntagsgeschichte Aus dem Ukrainischen Ich erinnere mich noch an meinen ersten jakutischen Winter. Eines Nachts erwachte ich von einem seltsamen, leisen Klopfen am Fenster. Ich sah hinaus. draußen war niemand. Draußen stürmte es, und es herrschte klirrender Frost. Doch wieder das Klopfen am Fenster, noch einmal und noch einmal.Dann hörte es auf. Am nächsten Morgen, als mir dieses seltsame Klopfen wieder einfiel, ging ich hinaus, um nachzusehen, ob der nächtliche Gast im Schnee vielleicht Spuren hinterlassen habe. Spuren gab es keine. Doch da entdeckte ich einen mit Schnee bestäubten toten Vogel. Er war groß wie ein Rabe und lag da mit ausgebreiteten Flügeln, als sei er im Flug vom Tod überrascht worden. Mit einmal wurde mir klar, dass er es gewesen war, der geklopft hatte. Er hatte geklopft und um Hilfe gebeten. Was hätte es mir ausgemacht, die Luftklappe zu öffnen und ihn hereinzulassen. Aber ich habe es nicht getan. Dieses Schuldgefühl hat mich lange verfolgt. Seitdem öffne ich beim ersten Klopfen immer Tür und Fenster. Es könnte ja jemandem schlecht gehen. Meine Generation zog es in den Norden, in die Wüste, in die Taiga, um dem von oben gelenkten eintönigen Leben mit seinen Losungen und seiner Gleich - förmigkeit zu entfliehen. Die meisten meiner Freunde wandten sich der Geologie, der Forstwirtschaft und ähnlichem zu, wenn nur der Beruf mit Vagabundieren und Schlafen am Lagerfeuer verbunden war. Was wusste ich über das ferne Jakutien, in dem ich mich zur Arbeit als Lehrerin verpflichtet hatte? Dass es so groß ist wie Europa und dass nur alle drei Kilometer ein Mensch lebt. Vor vierhundert Jahren hatte der Kosak Jermak es mit seiner Streitmacht für Russland erobert. Unter den Flugzeugflügeln zogen die sibirischen Ströme Ob und Irtysch vorbei, und plötzlich rief die junge Jakutin, die neben mir im Sessel saß: "Sehen Sie mal da! Das Bratsker Wasserkraftwerk!" Und wirklich, zwischen den Wolken öffnete sich uns unten das überwältigende Panorama des Stausees, von dem begeisternd in den Zeitungen geschrieben wurde und das der jungen Jakutin ihren Begeisterungsruf entlockt hatte. Beim Bau der sibirischen Staubecken wurden Landstriche überschwemmt, die größer waren als große europäische Staaten. Die sibirischen Ströme sollten nach Süden gelenkt werden zur Bewässerung der Wüsten. Die junge Jakutin, die in Moskau studierte, bebte innerlich vor Glück, beim Anblick ihrer Heimat, die nun auch einer glücklichen Zukunft entgegenging. Eines Tages stieß ich beim Preiselbeersuchen in der Taiga auf eine winzige Hütte. Auf das Bellen des Hundes trat eine Frau heraus. Es war eine Jakutin mittleren Alters, klein, dunkelhäutig. Ich ging auf sie zu. Da begann sie auf einmal durchdringend zu schreien und mit den Armen zu fuchteln: "Komm nicht näher", schrie sie, "geh schnell weg! Geh! Geh!" Später erfuhr ich, dass sie nun schon einige Jahre einsam in der Taiga lebte. Mit zwei Jägern hatte sie vor vielen Jahren im Spätherbst ans andere Ufer der Lena übersetzen wollen. Das Boot aber kenterte, und die beiden Männer ertranken. Die Frau überlebte, denn sie trug ein Kleidungsstück aus Biberfellen, das die tödliche Kälte eine Zeit lang abhielt. Sie konnte im eiskalten Wasser überleben, bis ein zufällig vorbeikommendes Motorboot mit Geodäten sie aufnahm. Als sie aber nach Hause zurückkam, wollte ihr niemand die Rettung glauben. Vergeblich beteuerten die ansässigen Russen, daß die Frau ein lebendiger Mensch sei und daß man sie nicht fürchten müsse. "Nein", riefen die Einheimischen, "sie ist tot. Was wir hier sehen ist ein böser Geist, der ihre Gestalt angenommen hat. Sie selbst ist mit den anderen in derLena umgekommen." Mit Steinen trieben sie die Frau aus der Siedlung. Alle beteiligten sich daran, dieNachbarn und sogar der Ehemann. Aber vielleicht hatte der längst eine andere Frau im Kopf. Sonderbar war, dass sie nicht verzweifelte. Still und ergeben fügte sie sich in der ihr zugewiesenen Rolle, kein lebendiger Mensch zu sein. "Der böse Geist! Der böse Geist!" schrieen die Kinder, wenn sie vor Hunger entkräftet am Dorfrand auftauchte, und ergeben entfernte sie sich. Da begriff ich, dass bei allem äußeren Anschein von Zivilisation Denkweise und Weltanschauung der Jakutensich nicht geändert hatten. Die Zivilisation hatte ihnen Motorboote und Motorsägen gebracht, Syphilis und Wodka, die Ideologien des Betrügens und der Heuchelei. Ihre Glaubensgrundlage aber war die alte geblieben: die Verehrung der heiligen Steine, der Glaube an Geister, die Beschwörungsrituale, die Tradition des Geschichtenerzählens und ihre Auffassung von Ethik. Während meiner acht langen Jahre als Lehrerin in Jakutien besuchte ich Wintersiedlungen und Nomadenlager, viele weitab vonBahnlinien, Flusshäfen und Flugplätzen. Ich habe unter Jakuten, Nenzen und Selkupen gelebt, unter Dolganen, Nganasanen, Ewenken, Jukagiren und Ewenen, unmitten der vielgestaltigen Welt der nördlichen Völker, die sich in den Jahren der Sowjetmacht mehr und mehr ihrer Mutter-sprache und ihrer Sitten und Gebräuche zu schämen begannen. Dies sei, so sagte man ihnen, rückständig und primitiv. Die Kinder von Jägern, Fischern und Rentierzüchtern hörten auf, ihren traditionellen Gewerben nachzugehen und strebten fort aus den angestammten Gebieten, wo sich, wie es schien, Dreck, Armut und Armseligkeit für immer niedergelassen hatten. Lensk hieß das Städtchen, in dem ich mich ansiedelte. Man pries es als das Tor zum Land der Diamanten. Den ganzen Sommer über wurden auf der Lena Frachtgüter in die nahe gelegenen Diamantgruben Mirnyj, Aichal und Udatschnoje in unserer kleinen Hafenstadt umgeschlagen. Geräte und Ausrüstungen, Baumaterial und Lebensmittel, wurden auf dem Wasserweg von Lensk aus zu den Diamantgruben transportiert, alles vom Nagel bis zum Traktor, jedes Körnchen Salz. Und hier in den jakutischen Schulen sollte ich den Kindern Singen und Musizieren beibringen. Eines Tages geschah ein Unglück. Wir sollten in eine kleine jakutische Siedlung am Ufer der Lena fahren, um dort mit unserer Gesangsgruppe aufzutreten. Aber ich hatte mich verspätet, weil ich den Talisman nicht finden konnte, den mir ein Schamane geschenkt hatte: Den Splitter eines Mammutzahns. Ich konnte ihn nicht finden, und als ich hinab zum Ufer rannte, war das Motorboot weg. Am nächsten Morgen hörten wir, dass das Boot spät abends mit einem Lastkahn zusammengestoßen und untergegangen war. Niemand hatte sich retten können. Ich glaube, ich bin ein bisschen verdreht, wenn ich mir vorstelle, dass mein Talisman mir das Leben gerettet hat, von dem der Schamane mir gesagt hatte: "Nimm ihn. Ich weiß, du glaubst nicht daran, aber er wird dir Glück bringen." Der Archipel Gulag prägte unser Leben im Norden. Die Stadt, in der ich lebte, war von einem Ring von Lagern umgeben. Merkwürdigerweise verließen viele ehemalige Häftlinge nach ihrer Entlassung nicht den Norden. Sie blieben dort, als hielten die Gräber der unschuldig Ermordeten sie fest. In fast jedem Haus fand man einen ehemaligen, meist politischen Häftling. Da war Sergej Golowin, der Bildende Künstler aus Petersburg. Schon sein Großvater war Maler gewesen, der Decken und Wände in den Villen des Petersburger Adels bemalt hatte. Verheiratet gewesen war er mit einer schönen Aristokratin. Zusammen mit ihr und den Nachkommen wurde die Familie nach Jakutien in die Verbannung geschickt, ins Gefängnis ohne Mauern. Als Künstler war er tot, lange bevor er sich dem Trunk ergab und starb. Zum Trinker wurde auch Michail Teterin, der Direktor der Musikschule, ein ehrlicher, gewissenhafter Mann, der einmal sagte: "Dieses Leben wird dich solange niederdrücken, bis du ganz am Boden liegst." Auch er war nicht weggegangen nach Verbüßung seiner Strafe. Und eines Tages hieß es, er habe sich erschossen. Mich hat das Leben in Jakutien nicht kleingekriegt. Im Gegenteil. Mich hat es erhoben. Ich erinnere mich noch gut des Augenblicks, kann sogar den Tag nennen, als sich in mir "die Seele öffnete". Das geschah in einem Taiganest mit Namen Tschuraptscha. Die langen Finger des alten, blinden Schamanen berührten meine Schulter, dann tasteten sie sich zu meinem Kopf hoch, ertasteten die Wangen, die Ohren, die Nase, die Augenhöhlen, das Kinn, als wolle er etwas erfühlen und es sich einprägen. Seine langsame Redeweise war so weich und bildreich, als würde er aus dem Gedächtnis bewusst die ausdrucksvollsten und genauesten Worte herausschälen. Ich lauschte, Jakutien ging gleichsam in mich ein und schmiegte sich an mein Herz. Damals hat sich in mir etwas für mein ganzes Leben entschieden. Obwohl ich seine Sprache nicht verstand, begann ich die Worte, die wie Kinderklappern rasselten, und in denen Erlittenes mitklang, zu erkennen. Die Runzeln in dem nussbraunen Gesicht des alten Schamanen zitterten, als er mir zum Abschied seine Prophezeiungen zuflüsterte. Jahre sind vergangen seitdem, und alle seine Weissagungen haben sich erfüllt. Vielleicht lege ich mir mein späteres Leben so zurecht, dass es in die Orakelssprüche des Alten passt, kann schon sein. Aber ich habe wirklich bei minus fünfzig Grad Kälte eine Tochter geboren, und in jener Nacht ist mein Haar am Kopfkissen festgefroren, weil die Fensterscheiben in der Kälte zersprangen und sich Eisklumpen in der Entbindungsstation bis in den letzten Winkel bildeten. Ich habe wirklich ganze acht Jahre durchgehalten in Jakutien und in dieser Zeit jakutischen Kindern Musikstunden gegeben: Sie spielten Tschaikowski, Beethoven und Grieg. Sie brachten mir ihrerseits bei, wie man sich verhält, wenn man einem umherirrenden Bären begegnet. Wie man Rentiere anspannt und wie man auf dem Chomus spielt, ohne dass einem die Lippen wehtun, einem Musikinstrument wie unsere Maultrommel, dessen Gabel man zwischen die Zähne nimmt und dabei ein stählernes Zünglein zupft, bis Töne in den verschiedensten Stimmlagen von überirdischem Klang ertönen. Und dann hatte mir der Schamane noch vorhergesagt, dass achtzehn Jahre nach der Geburt meiner Tochter der reichste und einflussreichste Mann Japans ihr zu Ehren einen Empfang geben werde. "Was für eine Tochter, mein Gott!" rief ich belustigt, und während ich mir die kältestarren Finger rieb und versuchte, es mir auf dem am Boden liegenden Rentierfell ein wenig bequemer zu machen, dachte ich voller Wehmut: Was für Phantasterei! "Mit wem wohl sollte ich hier eine Tochter haben? Und Japan? Herr im Himmel! Etwas kleiner geht’s wohl nicht?" "Deine Tochter", sagte der Schamane leise als überlege er und überprüfe letztmalig das eben Gesagte, "deine Tochter, ja, und Japan, das stimmt." Doch auch das erfüllte sich. 1991, als meine Tochter Jana achtzehn Jahre alt wurde, fuhr sie, zusammen mit anderen jungen Künstlern, auf Einladung des Mäzenaten Sasakawa nach Japan und überreichte dem Präsidenten Tosiki Kaifu ein Aquarell als Geschenk. "Welch wunderbare und schöne Farben hat der russische Schnee", sagte der Präsident, als er die Arbeit betrachtete. Es war jakutischer Schnee. Es war ein Bild aus der Erinnerung gemalt. Ein seltsames Gefühl der Verlassenheit lösten die einsamen, niedrigen Polarbirken in der Tiefe des Bildes aus. Etwas Tragisches lag in den Windungen der glatten, weißen, fast zwerghaften Stämmchen. Ihre Umrisse schufen Charaktere und riefen Gedanken an Menschen und Schicksale wach. "Du wirst tausend Leben leben und durch tausend Länder reisen", hatte mir der Schamane prophezeit. Wahrscheinlich hielt er für jeden einen Spruch dieser Art bereit. Doch tatsächlich habe ich nach meinen acht jakutischen Jahren als Lehrerin den Norden und den Osten bereist, den Süden und den Westen. Überall in Russland sitzen Menschen und können die Zeugnisse meines Umherwanderns betrachten, die in Hunderten von Filmkopien vervielfältigt vorliegen, woran damals, als ich mich frierend auf dem Rentierfell des Schamanen zum ihm umwandte, nicht zu denken war. Ich habe mit Selbstmördern und Zauberern gesprochen, mit Mönchen, Landstreichern, Piloten und Bauern. Um das Leben eines Häftlings verstehen zu lernen, lebte ich im Gefängnis und hörte mir Hundert Bekenntnisse an. Saß im Sajangebirge tagelang im Sattel. Badete in tungusischen Eisquellen und zahlte dafür mit Fieber und Schüttelfrost. Flog in Überschallflugzeugen des Militärs. Streifte mit Dorfhexen durch die dunklen Wälder von Wologda. Schritt über Aussätzige hinweg, die auf den Trottoiren von Kairo lagen, während lange glänzende Wagen der Marke Mercedes über den Asphalt jagten und an der Ampel bei Rot neben einem Kamel anhielten ... "Zwanzig Jahre lang müssen Sie schweigen und dürfen niemand von dem erzählen, was ich Ihnen gesagt und was Sie hier gesehen haben, sonst wirkt die Prophezeiung nicht und die Geheilten werden sterben", hatte der Schamane gesagt, als ich mich von ihm verabschiedete. Die Zeit ist jetzt um und ich kann erzählen, dass ich gesehen habe, wie bei einer schweren Geburt der Schamane eine Axt mit der Schneide nach unten über den Lagerfellen der Wöchnerin hängte. In Versen rang er mit den Geistern, um zu erfahren, warum die Frau so leiden müsse und welches Opfer verlangt werde. Ich habe den Kampf des Schamanen mit den Geistern miterlebt, die verlangten, die Wöchnerin selbst sollte das Opfer sein. Und als es ihm gelang, ihnen dieses Opfer zu entreißen, verlangten sie von ihm, er solle ihnen einen anderen Menschen als Opfer anbieten. Ich habe gesehen, wie es ihm schließlich gelang, den Geistern ihre Macht zu nehmen. Ich habe es gesehen, und ich hasse mich deswegen. Ich hasse mich, dass ich nicht aufgesprungen bin, um einen Arzt aus der Kreisstadt zu holen. Ich habe gesehen, wie danach ein gesunder Knabe geboren wurde, den man in eine Schaukel legte, deren Boden mit dem Bauchfell junger Rentiere ausgelegt war und mit Holzmulm zum Aufsaugen der Feuchtigkleit. Die Decke war nach altem Brauch aus einem Schwanenbalg gearbeitet, die Wangen des Knaben wurden mit dem Blut eines Schneeadlers eingerieben und sein Nabel wurde mit Pulver aus Holzkohle bestreut. Ich habe gesehen, wie ein todkrankes Kind zum Schamanen gebracht wurde. Jammernd redete die Mutter auf den alten Mann ein, bis er ihr befahl zu schweigen. Lange betrachtete der Schamane das leidende kleine Bündel, als versuche er, sich auf etwas zu besinnen. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Junge war oder ein Mädchen. Lange dauerte die Stille, die nur unterbrochen wurde durch das Stöhnen aus den Fellen. Dann sagte der Schamane, ja, er sehe eine Möglichkeit, das Kind zu retten. Ob die Mutter bereit wäre, mit ihm die Heilungssitzung durchzustehen, die zwei Tage dauern würde. Man müsse dazu aber weit weg fahren, am besten in ein abgelegenes Rentierlager. Mit dem Kind auf dem Schlitten machten wir uns auf den Weg. Es atmete röchelnd und hatte offenbar hohes Fieber. Sein Gesicht glühte und immer wieder verlangte es zu trinken. Ich war wütend, wütend auf mich, dass ich es nicht fertig gebracht hatte, das Kind dem alten, blinden Mann zu entreißen und es in der Kreisklinik unterzubringen. In dem Häuschen, in das der Schamane uns brachte, brannte der Ofen. Es war warm. Eine junge Frau wohnte dort, die dem Schamanen nun als Helferin diente. Das Kind wurde ausgezogen und auf ein Lager aus Wolfsfellen gelegt, die der Alte tastend aus einem Stapel Plunder herausgesucht hatte. "Es wird jetzt einschlafen und zwei Tage lang bewusstlos liegen blieben", sagte er. "Ich werde die ganze Zeit neben ihm wachen. Dabei darf ich nicht einschlafen. Indem sich unsere Seelen miteinander vereinen, würde er sterben, schliefe auch ich. Ihr anderen habt aufzupassen, dass keine lauten Geräusche entstehen. Sie würden den sofortigen Tod des Kindes zur Folge haben Plötzlich schrie er unnatürlich laut auf und während er mit gespreizten Händen vor dem Gesicht des Kindes seltsame, beschwörende Bewegungen machte, begann er unverständliche Worte zu murmeln. Mir kam es vor wie Hokuspokus, aber ich konnte mich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich allmählich nicht nur der Raum veränderte, sondern auch die Gestalt des Alten, seine Stimme, sein Gesicht. Seine toten Augen schienen zu funkeln. Heute, wenn ich mich daran erinnere, glaube ich an eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch Übermüdung, durch die immer niedriger brennende Petroleumlampe, durch den Rauch im Raum, durch das Röcheln des Kindes, durch das Gewimmer der Mutter, durch den Klang der Zaubersprüche des Alten. Tatsächlich wachte mit starrem Blick ins Grenzenlose der Alte zwei ganze Tage neben dem kranken Kind. Das einzige, was er zu sich nahm, war ein Aufguss aus Wurzeln und Kräutern, den die Helferin ihm an die Lippen hielt. Von Zeit zu Zeit wedelte sie ihm mit der Sehne einer Wolfspfote, die sie vorher über dem Feuer geweiht hatte, vor der Nase. Spät am Abend des zweiten Tages erhob sich der Schamane. Die Helferin reichte im den Chomus, und er vertiefte sich in eine Melodie aus leisen, gedehnten, schwermütigen Tönen, die mir wie kosmische Musik vorkam. Plötzlich ertönte ein Pfiff, ich begriff nicht, woher er kam, und ein Windstoß schien durchs Zimmer zu gehen. "Nun ist der Geist erschienen", flüsterte mir die Helferin zu, "und der Geist beginnt zu sprechen." „In einer mir unverständlichen Sprache, die aber nicht das Jakutische war, entstand ein Geraune. In dem von Rauch durchzogenen Zimmer, in dem die Lampe nur noch einen schwachen Schein abgab, war nicht zu unterscheiden, woher die Stimme kam. Der Alte antwortete der Stimme. Die Mutter wurde aufgefordert, ihr Kind in den Arm zu nehmen und mit ihm durch das Zimmer zu gehen, immer im Kreis ... Das habe ich gesehen. Aber ich weiß heute nicht mehr, was daran Einbildung war, was wirkliches Geschehen. Das Kind wurde gesund. Die Mutter belohnte den Schamanen mit Geschenken. Zwei schwarze Zobelfelle waren darunter, die kostbarsten, die es gibt. Nur der Zar und seine Familie hatten früher Felle dieser Art tragen dürfen. Mit den Jahren verschwanden auch meine Gewissensbisse, dass ich diesen Hokuspokus zugelassen und mich sogar an ihm beteiligt hatte. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass am Ende immerhin alles gut ausgegangen war. Dass er mich, die Ukrainerin, die Westliche, daran hatte teilnehmen lassen, habe ich mir als eine Art von Public Relation zu erklären versucht. Wen, wenn nicht eine junge gutgläubige Lehrerin aus der Taiga ohne Welterfahrung, könnte er mit seinen Ritualen beeindrucken. Zum Abschied schenkte er mir den Splitter eines Mammutknochens und ermahnte mich, zwanzig Jahre das, was ich gesehen und gehört habe, nicht weiterzuerzählen. "Und schreiben dürfen Sie in dieser Zeit auch nichts darüber", sagte er. Ich weiß noch, dass ich innerlich auflachte bei dem Gedanken. "Aber nein", rief ich, "haben Sie keine Angst. Ich kenne niemand, dem ich schreiben könnte." "Sie werden schreiben", sagte er leise und wandte sich ab, "sie werden schreiben."
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Unsere SONNTAGSGESCHICHTE "Jakutien" von Tatjana Kuschtewskaja, aus dem Ukrainischen übersetzt von Marianne Wiebe in der Bearbeitung von KarlHeinz Jakobs, ist eine Erstveröffentlichung. | Quelle: Internet