Felsbilder von Schischkino

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Östlich der Sonne |

Bednarz

Auf die Idee, heutzutage in den Dreitausend–Seelen-Ort Katschug zu reisen , dürfte kaum jemand kommen, es sei denn, er interessiert sich für ein Heiligtum besonderer Art: die Felsbilder beim Dörfchen Schischkino , etwa zehn Kilometer stromabwärts, am rechten Lenaufer. Hier erheben sich auf eine Länge von zweieinhalb Kilometer in einem riesigen Bogen Felsen, die schon die Ureinwohner Sibiriens magisch angezogen haben. Das jedenfalls schließen Archäologen aus Grabungen am Fluss der Steilwände und den mehrere tausend Jahr alten Zeichnungen, mit denen diese übersät sind. Die erste genauer Beschreibung der Felsbilder stammt von dem deutschen Sibirienforscher Gerhard Friedrich Müller der 1733 mit der Großen Expedition des Vitus Bering nach Kamtschatka aufgebrochen war. Müller hielt sie allerdings für zeitgenössische Hervorbringungen der damals am Ufern der Lena siedelnden Burjaten und Tungusen und maß ihnen keine besondere kulturgeschichtliche Bedeutung zu. Die russische Kolonialverwaltung Sibiriens hingegen begriff sehr bald, dass die Felsen von Schischkino mit ihren Zeichnungen für die einheimische Bevölkerung ein kultischer Ort war, und unternahmen wiederholt Versuche, sie zu zerstören, zumindest zu beschädigen. Ein Teil der Felsen wurde im Jahr 1897 gesprengt , andere fielen zu Stalins Zeiten dem Bau einer Straße am Ufer der Lena zum Opfer. Dennoch, die meisten Felszeichnungen von Schischkino sind bis zum heutigen Tag erhalten und geben der Forschung noch immer Rätsel auf. Die ältesten Steinzeichnungen an den Felswänden von Schischkino, hoch über der Lena, stammen aus der Steinzeit, etwa 20 000 bis 15 000 vor Christus . Die jüngsten werden auf 1700 nach Christus datiert. Während die alten Darstellungen mit roter Farbe gemalt oder in den Stein geschlagen wurden, sind die jüngeren Datums meist mit spitzen Gegenständen in den Stein gerieben. Die Bilder aus der Steinzeit zeigen vor allem Tiere und Jagszenen , wie sie sich wohl auch am Fuß der Lena-Felsen abgespielt haben. Denn die nicht sesshaften >> Jäger des Nordens << errichteten ihre Lager mit Vorliebe auf Plätzen zwischen dem Ufer und den steil aufragenden Felsen. H i e r lauerten sie ihre Beute beim Durchqueren der damals noch wasserreichen Lena auf, oder trieben Herden wilder Pferde, Bisons oder anderer Tiere gegen die Steilwände, an denen es kein Entrinnen mehr gab Jagdtechniken , wie sie noch im 19. Jahrhundert im äußersten Norden Sibiriens und bei den Nordamerikanern beobachtet wurden.Das am häufigsten dargestellt Motiv ist der Elch der in Felszeichnungen auf dem gesamten eurasischem Kontinent von Skandinavien bis zum Pazifik immer wieder auftaucht. Für die sibirischen Völker der Taiga und Tundra war er nicht nur eines der wichtigsten und am vielfältigsten nutzbaren Jagdtieren, sondern zugleich ein mythologische Figur, Held vieler Märchen und Legenden. Er ist die zentrale Figur, des Nationalepos der Jakuten, vieler Erzählungen der nordsibirischen Ewenken , Nenzen und Jukagiren , aber auch ein dominantes Bildmotiv der Totems vieler Indianerstämme Nordamerikas. In sibirischen wie in indianischen Legenden von der Milchstraße, so hat Alexej Okladnikow herausgefunden, kommt der Elch oder zuweilen auch der Hirsch als kosmisches Tier vor, gejagt von einem himmlischen Jäger, meist in Gestalt eines Bären. Für die frappierende Übereinstimmung in der Kunst der Vorzeit Sibiriens und Frankreichs , die offenkundig kein Zufall ist, hat Alexej Okladnikow zwei Erklärungen. Als erste << die Einheitlichkeit >>der vorzeitlichen Weltanschauung und des Denkens. Die zweite, klingt vielleicht etwas unerwartet, sei aber nicht weniger wahrscheinlich: << Wer weiß, über welche Räume sich die Wanderungen der frühen Jäger erstreckten, die mit ihrer Niederlassungen den Herden der Rentiere, Wildpferde und Bisons folgten, als Mammute und Polarfüchse an den Küsten der Eismeers nach Osten zogen.>> Mit den Jahrtausenden, dem Übergang von der Steinzeit zur Bronze- und Eisenzeit, wandelt sich auch der Stil der Felsbilder von Schischkino, der Inhalt, ihre Form. Neue Mythen und Glaubensvorstellungen hinterlassen ihr Spuren. In Fels gehauen oder geritzt künden die Zeichnungen von Veränderungen im geistigen Leben der Urbevölkerung der sibirischen Taiga.Die früher uneingeschränkte Herrschaft der Tiere in der Mythologie und Kunst hat eine Ende; neben dem Tier tauchen nun auch Menschen in den Steinzeichnungen auf, besser: << menschenähnliche Geister >> (Alexej Okladnikow). Der Schamanenkult hält Einzug in Sibirien und findet an den Felswänden von Schischkino seinen bildhaften Niederschlag.Und so entdecken wir in etwa 100 Meter Höhe über dem Flussufer …. einen tanzenden Schamanen dar, einen schlanken, sich nach unten verjüngende menschenähnliche Gestalt auf zwei dürren etwas gekrümmten Beinen; Vom Kopf ragen strahlenförmig sechs Linien nach oben, die wohl die Schamanenkrone aus Vogelfedern andeuten soll. Das könnte ein Hinweis darauf sein, warum die in dieser Region siedelnden sibirischen Ureinwohner, die Burjaten und Tungusen, die Felsen von Schischkino als mythischen Ort, als Kultstätte ansahen als Sitz von Göttern und Schamanen . Zu den kulturhistorischen aufschlussreichsten Zeichnungen an den Felswänden von Schischkino gehören Bilder von Reitergruppen . Ihre Pferde unterscheiden sich in der Form auffallend von dem gedrungenen, fast rundlich wirkenden Wildpferd der Jungsteinzeit. Sie haben ein stolz hervorragende, im Gegensatz zum Wildpferd ungewöhnliche breite Brust und einen lange gestreckten, schmalen Leib. Die Reiter sitzen besonders aufrecht und tragen Wimpel und Standarten . Im Vergleich zu den Pferden wirken die Menschen winzig für manche Völkerkundler ein Hinweis auf die hervorgehobene Stellung des Pferdes in der Gesellschaft der Urvölker Sibiriens.Diese << Ehrenstellung >> (Alexej Okladnikow) des Pferdes ist noch heute in Jakutien zu beobachten, wo am Tag des Sonnenfestes und bei anderen Gelegenheiten dem Pferd in kultischen Tänzen gehuldigt wird. Datiert werden die Reiterbilder auf die Zeit um 500 vor Christus. Doch wer waren die selbstbewussten Reiter? Woher kamen sie? Wie sind sie hierher in die Taiga, ans Ufer der Lena gelangt? Aufschluss darüber geben sowohl die Kleidung als auch die Form und Größe der meist mit ausgestrecktem Arm getragenen Wimpel und Standarten. Die Kleidung ist türkisch, wie sie die Nomadenvölker der mongolischen Steppe trugen, und die überwiegend quadratischen Fahnen ähneln denen der alten Perser , Kirgisen und anderer Turkvölker . Entlang der Lena gefundenen Totengedenktafeln mit türkischen Idiomen, die ähnlich Reiterbilderbilder wie die Felswände von Schischkino zeigen, erhärten die These, dass es ein Turkvolk war, das in vorchristlicher Zeit an den Ufern der Lenas siedelten. In alten chinesischen Chroniken . Berichtet Alexej Okladnikow, findet sich sogar der Name dieses nördlichsten aller Turkvölker: Kurikanen . Die Kurikanen (chinesisch: Chuliganen, so ist da zu lesen, << ziehen am nördlichsten Rande des Baikal umher, und ihre Länder… erstrecken sich nach Norden bis zum Meer>> . Die Chinesen wussten damals schon, dass sich der Baikal im Winter mit Eis überzieht , und sie glaubten, die Bewohner der nördlichsten Gebiete Sibiriens Riesen seien eine Vorstellung , die auch in unzählige Legenden der Nordvölker von Finnland bis nach Alaska überliefert ist , in denen von << mythische Giganten des Eismeers >> berichtet wird. Zu den bis heuten ungelösten Rätseln der Felswände von Schischkino gehören die Darstellungen von Robben. Zwar gibt es Robben im etwa 200 km entfernten Baikalsee, doch wie diese sonst nur im Salzwasser lebenden Tiere aus dem Polarmeer in den Baikalsee gelangt sind, wissenschaftlich bislang ebenso wenig geklärt wie die Frage, welche - möglicherweise mythische Bedeutung den Robben auf den Felsen von Schischkino zukommt.
Porträt von Vitus Bering, basierend auf Forschungen von Professor Victor Zvyagin, Moskauer Institut für forensische Expertise Schamane Reiter mit Kamelen Pferde Reiter Bison
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